Achtzehn Prozent können viel sein, aber auch wenig. Je nachdem, wer man ist: eine kleine, in Teilen rechtsextreme Partei wie die AfD oder die mitgliederstärkste und älteste Partei Deutschlands, die gerade den Bundeskanzler stellt, die SPD. Beide Parteien kommen in Umfragen von Infratest dimap und Forsa auf einen ähnlichen Wert, nämlich zwischen 17 und 18 Prozent. Das ist wenig für die SPD, aber erstaunlich viel für die AfD.
Im vergangenen Sommer ging der Aufstieg los. Damals wurde alles teurer, das Benzin, das Gas, der Strom, auch die Lebensmittel. Es kamen immer mehr Flüchtlinge, die Kommunen ächzten, aber eine Lösung gab es nicht. Die Ampelkoalition stritt über das Gebäudeenergiegesetz, und die Bürger kriegten Angst vor hohen Kosten. Wenn AfD-Anhänger gefragt werden, was sie motiviert, nennen sie genau diese Themen. Schlechte Zeiten für Deutschland sind immer gute Zeiten für die AfD. Steht sie also bald bei 20, dann bei 25 Prozent? Ausgerechnet AfD-Politiker haben Zweifel, dass der Hype andauert.
Der stellvertretende Bundesvorsitzende Stephan Brandner sagt: „Es ist schon Freude über die guten Umfragezahlen da, aber doch eher verhalten.“ Der Parteivorsitzende Tino Chrupalla sagt: „In der Vergangenheit konnten wir Umfragehochs nicht halten, weil sich führende Politiker zum innerparteilichen Streit hinreißen ließen.“ Der bayerische Landesvorsitzende Stephan Protschka sagt: „Ich bin immer sehr vorsichtig bei Umfragewerten. Das sind nur Momentaufnahmen.“
Enttäuschung über Parteien
Bei der AfD sind sie es gewohnt, in den politischen Gezeiten zu schwimmen. Mal gibt es eine Eurokrise, eine Flüchtlingskrise, dann ist Flut. Mal geht es Deutschland gut, dann ist wieder Ebbe. Auch im Sommer 2018 stand die AfD bei 17 und 18 Prozent, das eine war eine Umfrage von Emnid, das andere von Infratest dimap. Damals war die große Koalition zerstritten, es ging um Migration, rechtsextreme Ausschreitungen in Chemnitz und die Gesinnung des damaligen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen. Politikwissenschaftler sahen Gründe, der AfD einen weiteren Aufstieg zuzutrauen. Und was geschah? Nichts. Die AfD sank nach und nach wieder auf neun Prozent.
Man kennt das von anderen Parteien aus anderen Jahrzehnten. Die Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach, Renate Köcher, erinnert sich: „Vor langer Zeit war die rechtsextreme DVU mal stark. Die Leute haben im Nachhinein gesagt: Wir wollten eigentlich nur den anderen Parteien vors Schienbein treten.“ Genauso reden die AfD-Anhänger heute. Zwei Drittel sagen, dass sie gar nicht glauben, dass die Partei ihre Probleme löst. Sie sind nur von den anderen Parteien enttäuscht. Es geht ihnen um Protest, Trotz, Rache.
Für die übrigen Parteien ist das nicht ohne Ironie. Sie warnen jahrelang vor den extremistischen Tendenzen der AfD, und dann wählen die Leute ausgerechnet diese Partei, weil nichts die anderen so ärgert und verunsichert. Meinungsforscher können den anderen Parteien aber auch Hoffnung machen: „In Zeiten von Unzufriedenheit haben extreme Parteien wie die DVU oder die NPD immer mal wieder profitiert, aber nie dauerhaft“, sagt Köcher.
Nicht länger zerstritten
Die AfD gewinnt also in der Krise und schmilzt danach wieder ab. Aber vielleicht hat manch einer danach weniger Berührungsangst, oder das AfD-Wählen wird für ihn zum Ritual, wann immer er unzufrieden ist. Wer die Ampel doof findet, demonstriert nicht auf der Straße, sondern macht sein Kreuz bei den Rechtsextremen, das wird verstanden, das ist so üblich, das geht. Diese Hoffnung hat der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland. Er glaubt, dass die AfD mehr „Stammwählerpotential“ gewinnt. „Das wird wieder abschmelzen, aber nicht mehr auf sieben Prozent. Vielleicht sind wir dann bei zehn Prozent.“
Früher litt die AfD oft unter ihrer Zerstrittenheit, das ist vorbei. Der Landesvorsitzende von Sachsen-Anhalt, wo die AfD bei 26 Prozent steht, erinnert sich: „Wenn ich früher am Infostand gestanden habe, haben die Menschen ganz oft gesagt: Warum streitet ihr so? Das kann man uns heute gar nicht mehr vorwerfen.“ Seit dem Austritt des früheren Parteivorsitzenden Jörg Meuthen sind viele Gemäßigtere aus der AfD raus oder still geworden. Die Übrigen mögen umso radikaler sein, aber auch einheitlicher, harmonischer. Der Richtungsstreit zwischen Bernd Lucke und Frauke Petry drückte die AfD in Umfragen mal bis auf drei Prozent. Im Umkehrschluss muss man annehmen, dass Einigkeit hilft.
Was auch hilft, sind neue Anhänger durch neue Themen. Der AfD-Außenpolitiker Petr Bystron glaubt, in den vergangenen Jahren auf zwei Goldgruben gestoßen zu sein: die Querdenker und die Friedensbewegten. Das waren zwei Milieus, die eigentlich zum politischen Gegner gehörten, weil sie im weitesten Sinne grün wirkten. Auf den Demonstrationen beider Gruppen sah man Dreadlocks und sanfte Gesichter. Man sah aber auch AfD-Politiker, die den Schulterschluss suchten. Bystron sagt: „Stellen Sie sich vor, Sie sind so ein Achtzigerjahre-Friedensbewegungstyp mit selbst gestricktem Lama-Pullover. Und Sie stehen auf einer Friedensdemo drei Stunden lang herum und unterhalten sich mit dem Bystron und denken: Der ist eigentlich ganz normal. Abends kommen Sie nach Hause und bekommen in der Tagesschau gesagt, Sie seien ein Reichsbürger. Da macht es klick bei den Leuten. Die denken: Offensichtlich ist die AfD in den Jahren davor genauso diffamiert worden wie wir jetzt.“ Man muss Bystrons Theorie nicht plausibel finden. Durch Umfragen belegt ist aber, dass die AfD die Partei der Unzufriedenen ist. Und von denen gab es durch Corona und Krieg mehr als in anderen Jahren. Da ist es nicht abwegig, dass die AfD auch unter Querdenkern und Friedensbewegten hinzugewonnen hat. Die Migrationskritiker und die Eurokritiker hatten sie ja schon.
„Uns nützt die Sorge der Menschen vor einem Krieg“
Ein gutes Stimmungsbarometer ist der AfD-Abgeordnete Jürgen Pohl. Wenn er kann, redet Pohl über Rentenangleichung, Mindestlohn und Betriebsräte. Er ist der wandelnde Sozialflügel seiner Partei. Nur interessiert das gerade keinen. Deshalb hält Pohl ausschließlich Reden über „Krieg und Frieden“, wie er sagt. In denen zieht er Vergleiche zwischen dem Kosovo und der Ukraine, zwischen grünen Außenministern, die auf Waffengewalt setzen, damals wie heute. Wenn er über die russischen Kriegsverbrechen redet, muss Pohl manchmal aufpassen, weil das Leugnen eines Kriegsverbrechens in Deutschland auch als Volksverhetzung bestraft wird. Aber Pohl ist Anwalt, er umschifft die Gefahr elegant. Sein Beispiel zeigt, wie sehr im AfD-Milieu gerade alle anderen Themen vom Krieg abhängen, auch die sozialen. Gauland sagt: „Uns nützt die Sorge der Menschen vor einem Krieg. Und die ist ja auch berechtigt.“
Seine These lautet also, dass die Bürger verunsichert sind und sie sich der AfD zuwenden, damit andere Politiker keine sicherheitspolitischen Abenteuer unternehmen. AfD-Politiker versprechen deshalb oft ein Land, wie es vermeintlich einmal war, vor 20 oder 30 Jahren. Aber was ist mit ihren eigenen Abenteuern?
Davon gibt es viele, in unterschiedlicher Größe. Sie wollen, dass russische Muttersprachler ohne Lehramtsstudium an deutschen Schulen Russisch unterrichten. Sie fordern, schon Zwölfjährige ins Gefängnis zu bringen. Sie wollen Homosexuellen verbieten, Kinder zu adoptieren. Sie wollen Deutschland ethnisch einheitlicher machen, etwa durch eine höhere Geburtenrate der „Einheimischen“, wie sie es umschreiben, oder durch massenhafte Abschiebungen.
Wunsch nach NATO-Austritt
Im Ukrainekrieg wollen sie etwas tun, was aus Sicht der anderen Parteien besonders abenteuerlich ist: Sie wollen der Ukraine keine Waffen mehr liefern, alle Sanktionen gegen Russland aufheben, wieder Gas von Russland über eine reparierte Nord-Stream-2-Pipeline kaufen, alle amerikanischen Truppen aus Deutschland verbannen und ihre Atomwaffen auch. AfD-Politiker wie Pohl wollen sogar aus der NATO austreten. Und dann wollen sie einen Waffenstillstand in der Ukraine erreichen, durch den Russland seine bisherigen Eroberungen behält. Russland wäre begeistert, die Ukraine fassungslos.
Aber wiederholen sich Kriegsverbrechen wie in Butscha nicht, wenn die Russen Gebiete erobern, morden und vergewaltigen? „War es so? Ich war nicht dabei“, sagt Protschka. „Ich weiß, dass im Krieg auf beiden Seiten immer Unrecht geschieht. Der Leidtragende ist immer der kleine Mann vor Ort. Was war im Irakkrieg bei den Amerikanern? War das besser? Auch nicht, beides ist scheiße.“
Ob Russland nach seinem Sieg in der Ukraine womöglich andere Länder bedroht? Protschka sagt: „Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Ich weiß es nicht.“ Der AfD-Abgeordnete Dirk Spaniel sagt: „Wenn es einen Friedensvertrag gäbe, darf man nicht die Rolle Chinas unterschätzen und der anderen BRICS-Staaten. Die haben kein Interesse daran, dass Putin durchdreht. Sie werden das nicht zulassen.“ Im Umkehrschluss hieße das: Den Angriffskrieg auf die Ukraine ließen die BRICS-Staaten zu, sonst wäre er in Spaniels Logik nie passiert.
Amerika als Freiheitsfeind, Russland als liberaler Freund
Ob ein Deutschland ohne nuklearen Schutzschirm der Amerikaner nicht von Russland erpressbar wäre? „Ich würde darauf setzen, dass wir so gute Beziehungen zu Russland haben, dass wir es nicht als Bedrohung empfinden müssen“, sagt Bystron, Obmann im Auswärtigen Ausschuss, also ein hoher Außenpolitiker der AfD. Er kam mal als Flüchtling nach Deutschland, floh aus der Tschechoslowakei vor der sowjetischen Herrschaft nach Westdeutschland. „Als Kind in der Tschechoslowakei habe ich die Russen gehasst und die Amerikaner geliebt. Ich habe heimlich unter der Bettdecke ‚Voice of America‘ gehört mit 13 Jahren. Warum? Weil die Amerikaner der Garant für die Freiheit waren. Die Sowjets wollten uns eine Diktatur aufzwingen. Heute ist Russland formal ein demokratisch verfasster Staat. Was aus Amerika kommt, ist hingegen eine woke Ideologie, die die Freiheit des Einzelnen beschneiden will.“ So sieht Bystron die Welt: Amerika als Freiheitsfeind, Russland als liberaler Freund.
Die AfD nennt sich selbst die „Friedenspartei“. Sie will Wähler anlocken, die sich nach Ruhe und Sicherheit sehnen; die wollen, dass der ganze Trubel aufhört. Wer so denkt, könnte auch bei der Vorstellung nervös werden, dass Deutschland leichtfertig in Abhängigkeit zu einem Land gebracht wird, das imperialistische Angriffskriege führt. Umso schneller wählt so jemand dann wieder eine andere Partei. Protestwähler sind eben ein flüchtiges Phänomen. „Die Unterstützung für extreme Parteien geht meist zurück, wenn die Bevölkerung das Gefühl bekommt, dass bestimmte Themen von der Politik ernst genommen und behandelt werden“, sagt Köcher vom Allensbacher Institut.